„Ich bin superwichtig“ – der Wissensgeber als Lehrer
Vor einiger Zeit bin ich über einen Zeit-Artikel der Sorte „Achtung, nachhaltige Nebenwirkungen“ gestolpert: Er geht mir schlicht nicht mehr aus dem Kopf und ich ertappe mich dabei, meine Konzepte und Ansätze kritisch zu hinterfragen und aus neuen Blickwinkeln zu betrachten. Dabei ging es darin „eigentlich“ gar nicht so ganz um „mein Thema“, also die Wissensweitergabe in Unternehmen, sondern um das schulische Lernen, konkret um das sogenannte „Hattie-Ranking“.
John Hattie, Bildungsforscher und Professor an der University of Melbourne, hatte in einer Meta-Meta-Analyse von über 50.000 Einzelstudien d i e Faktoren herausgearbeitet, die sich als besonders einflussreich in Bezug auf den schulischen Lernerfolg gezeigt hatten und somit „eine Art Bestenliste der wirkungsvollsten pädagogischen Programme“ (http://www.zeit.de/2013/02/Paedagogik-John-Hattie-Visible-Learning) zusammengefügt.
Sein Buch dazu erschien bereits 2008 unter dem Titel „Visible Learning“, seine Thesen treffen aber anscheinend gerade jetzt den Nerv der Zeit und manövrieren sich von daher ganz aktuell als neueste Erkenntnisse durch die breite Medien- und Vortragslandschaft.
Wie gesagt: auch unseren Nerv haben sie getroffen und wir beschäftigen uns seit der ersten Lektüre des Zeit-Artikels mit Fragen, wie:
- Welche seiner Erkenntnisse lassen sich auf die Wissensweitergabe im unternehmerischen Kontext übertragen? Lassen sie es sich überhaupt?
- Ist es legitim, den – in seiner Analyse wieder so in den Mittelpunkt gerückten – Lehrer mit „unserem“ Wissensgeber gleich zu setzen?
- Und falls sie sich übertragen lassen – was bedeuten die Ergebnisse für unsere konzeptionelle Arbeit?
Unter vielen anderen treiben mich diese Thesen aus dem Artikel besonders um und an:
- Ich lese: „Auf den guten Lehrer kommt es […] an.[…]. Der Neuseeländer rückt den Lehrer wieder dorthin, wo sein Platz sein sollte: ins Zentrum allen Redens über Schule. Er ist der Hauptverantwortliche dafür, was Schüler lernen“– Hatties Kernthese.
Und hören: „Auf den guten Wissensgeber kommt es an“. Und fühle mich bestätigt: Erfolgreiche Wissenstransferprojekte setzen am Menschen an. Und zwar zu allererst beim Wissensgeber. Diesen für seine – oftmals unterschätze – (Zusatz)Aufgabe fit, also kompetent zu machen, ist auch aus meiner Sicht einer d e r Erfolgfaktoren schlechthin.
- Ich lese: „Noch höher [als die stringente Klassenführung] auf der Hattie-Skala rangiert die »teacher clarity«,dass Schüler also verstehen, was der Lehrer von ihnen will. […] Ganze Stunden erweisen sich als wirkungslos, weil der Lehrer zu Beginn nicht klarmacht, worauf es in den nächsten 45 Minuten ankommt.“
Und höre: „Eine klare Zieldefinition am Anfang einer Wissenstransfer-Session ist das A und O“. Und freue mich, dass sich dieser Aspekt in all unseren Wissenstransfer-Konzepten bereits wiederfindet.
- Ich lese: „Zwar steuert ein guter Lehrer laut Hattie den Unterricht von der ersten bis zur letzten Minute. Er nimmt hierbei jedoch – das ist das Besondere – immer die Perspektive seiner Schüler ein. »Ein guter Lehrer sieht den eigenen Unterricht mit den Augen seiner Schüler«, sagt Hattie.“
Und höre: „Je besser sich der Wissensgeber in seine Wissensempfänger einfühlen kann, desto erfolgreicher der Wissenstransfer.“ Und setzen einen Haken hinter mein Konzept, den Wissenstransfer nicht (nur) aus der Sicht des Wissensgeber zu gestalten, sondern mit starkem Fokus auf die Bedürfnisse und individuellen Anforderungen der Wissensempfänger.
- Ich lese: „Auch Hatties Ideallehrer ist so ein Superheld, jedoch einer, der systematisch seine Selbstzweifel pflegt. Er fragt nicht nur regelmäßig den Lernstand jedes einzelnen Schülers ab, mit kleinen Tests, die oft nur zwei, drei Minuten dauern müssen. Gleichzeitig lässt er die Schüler auch systematisch über seinen Unterricht urteilen. […] Hattie predigt eine Kultur des »Feedbacks«“
Und frage mich: „Kann und will ich dieses Element mit einbauen? Wie bekannt ist uns das Bild des von Selbstzweifeln geplagten Wissensgebers? Wie wirkungsvoll oder gar kontraproduktiv sind Tests im Wissenstransfer-Umfeld? Und wie wohl würden Wissensgeber mit konstruktiv-kritischem Feedback der -Empfänger umgehen? Würde der Wissenstransfer dadurch besser?“
- Ich lese: „Kein anderes Instrument kann in Hatties Ranking eine größere Effektstärke aufweisen als die systematische Selbsteinschätzung von Schülern.“
Und höre: „Fragt die Wissensempfänger!“ und lernen, dass ich Feedback definitiv noch stärker in meine Konzepte einbauen sollten – z.B. als kurze Standortbestimmung zu Beginn der folgenden Wissenstransfer-Einheit.
- Ich lese: „Laut Hattie sollen Rückmeldungen an Schüler stets neutral erfolgen, bezogen allein auf den Unterrichtsgegenstand. Falsche Antworten der Schüler sind in diesem Konzept geradezu willkommen. Hattie versteht Fehler als die eigentlichen Treiber allen Lernens.“
Und höre: „Achtung: Fehlerkultur“ – und kann nur zustimmend nicken!
- Ich lese: „Ein guter Lehrer verfügt für ihn über ein breites Repertoire von Unterrichtsstilen, die er je nach Klasse ausprobiert, »evidenzbasiert« prüft und – wenn nötig – auch wieder verwirft. […] es gibt keine pädagogischen Patentrezepte“
Und höre: „Ein guter Wissengeber verfügt über ein breites Repertoire an Wissenstransfer-Methoden, das er Lerntypengerecht, entsprechend der Rahmenbedingungen und Wissensarten variabel einsetzen kann.“ – und stelle für mich fest, mein Fokus auf die Methodiken im Wissensmanagement – und ganz neu auch auf den Kompetenz-Aspekt scheint der richtige zu sein.
- Ich lese: „Für nicht verhandelbar hält der Neuseeländer hingegen die emotionale Seite des Lernens. Ohne Respekt und Wertschätzung, Fürsorge und Vertrauen könne Unterricht nicht gelingen.“
Und höre: „Wissenstransfer ist ein sozialer Prozess – ob er gelingt oder scheitert hängt letztendlich an den Protagonisten, nicht an Methoden, Prozessen, Tools.“ – und denke: Hier bin ich gefordert, noch viel mehr Bewusstsein für dieses Thema in den Unternehmen zu schaffen.
Für mich steht seit der Lektüre dieses Artikels fest: Ich will mehr darüber wissen. Und recherchiere, reflektiere, diskutiere seitdem fleißig.
[Alle Zitate aus: http://www.zeit.de/2013/02/Paedagogik-John-Hattie-Visible-Learning]
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